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Der Moment des ganzen Lebens 

Es war einmal ein Leopard, der mir einige Zeit jede Nacht im Traum erschien. Er war groß, präsent und kam sehr nahe zu mir. Dann ging er langsam, mit wachsamen Augen und einem Geräusch, das wie die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit wachrief, 3x im Kreis um mich herum. 

Mir wurde dabei leicht schwindlig und ich fühlte mich so, als würde ich jeden Moment fallen und einschlafen.

„Warum schweifst du ab?“ fragte er mich. 

Ich runzelte die Stirn, denn ich verstand den Leoparden nicht. 

„Warum weichst du ab, wenn deine Gedanken dich zu einem bestimmten Thema bringen?“

Der Leopard blieb vor mir stehen und sah mich an mit diesen unendlichen Augen, in denen ich versinken wollte, um ganz bei mir anzukommen. Er wusste genau, dass ich in der vollkommenen Präsenz manchmal alles so intensiv fühlte als wäre ein ganzes Leben in einem Moment. 

Als wäre ein Tag ein Jahrzehnt, ein Jahr ein Jahrhundert und daher manchmal dafür sorgte, dass ich bestimmte Gedanken, Gefühle nicht zu lange im Moment fühlte, da das in der heutigen Zeit altmodisch geworden war. 

Das Schnelle, das Laute, das Konsumieren, das Viele, das „Von einem zum nächsten“ und das viele „Ablenken“ war modern geworden. Der Leopard verharrte vor mir und ich wusste, dass er jeden einzelnen Gedanken sehen, verstehen und lesen konnte. 

„Ein ganz besonderer Moment dauert manchmal ein ganzes Leben lang!“ sagte er und ich hatte den Eindruck, er lächelte mich an. 

In diesem Moment des Lebens kniete ich mich vor den Leoparden und ich konnte nicht anders, als meine Hand auszustrecken und über seine Stirn zu legen. Ich berührte ihn nicht. 

Der Leopard schloss seine Augen und mir traten die Tränen in die Augen.

„Fühlst du?“, flüsterte der Leopard. 

„Ja!“ murmelte ich ergriffen. Denn ich sah mit den Augen des Leoparden. Jetzt. Hier, Präsent. In die Tiefen allen Seins, in diesem Moment… der ein ganzes Leben beinhaltete. Dieser Moment war vollkommen. Dieses Leben war vollkommen. Alles war in Perfektion. 

Diesen Traum sollte ich nie vergessen. Er sollte mich auf eine bestimmte Fährte lenken… aber das ist eine andere Geschichte.

Martha Wirtenberger, Januar 2025