Die Traumeule Vieja
Vor langer, langer Zeit lebte in einem Land weit entfernt eine steinalte Eule. Sie nannte sich „Eule vieja“, denn sie hatte lange im Land der Maya in Mittelamerika gelebt. Dort in der spanischen Sprache bedeutet vieja alt. Und die Eule wusste, dass sie schon alt war. Meistens schlief sie am späten Nachmittag so tief, dass sie dabei fast die Nacht auch noch weiterschlafen wollte.
Ihr Freund Daniel, der Uhu Opa vom Nachbarswald, kam immer bei ihrem Baum vorbei und weckte sie.
„Vieja, komm schon. Es ist bereits dunkel, ziehen wir los in die Nacht und holen unsere Nahrung.“
Er nannte sie liebevoll vieja und stupste sie sanft an. Sie knurrte und öffnete langsam ein Auge, blinzelte kurz und schloss das Auge gleich wieder. Vieja schlief so gerne. Denn da konnte sie in ihre Traumwelt eintauchen.
Daniel wusste davon. Er selbst wünschte sich, er hätte auch so lebhafte, interessante und farbenfrohe Träume wie die Eule Vieja.
„Was hast du denn letzte Nacht erlebt im Traum, liebe vieja?“ Neugierig setzte sich Daniel neben die Eule auf den Ast und wartete darauf, dass sie ihm von ihrem Traum erzählte.
Die beiden kannten sich bereits seit mehreren Jahren. Daniel liebte es, ihren Träumen zu lauschen. Manchmal kam vieja auch in seinen Wald und erzählte seinen Kindern, Enkeln und Urenkeln von ihren Träumen.
„Gebt acht auf die Botschaften eurer Träume, sie können Wegweiser für euer Leben sein“.
Vieja hatte viele Freunde im Wald. Die älteren Tiere als auch die jüngeren liebten ihre Geschichten und Erzählungen von ihren Träumen. Daniel aber wusste, dass vieja ihre Kinder sehr vermisste. Die beiden Eulen waren lieber im fernen Mexiko geblieben als zurück in den Wald der Berge zu kommen. Vieja betonte immer, dass sie sich freue, denn ihre Kinder sollten ihren Träumen folgen und das tun, was sie glücklich mache.
Sie selbst liebte die Freiheit. Auch wenn sie lange mit dem Vater ihrer beiden Kinder glücklich gewesen war, so entwickelte sich dann einfach alles anders. Eines Tages wusste Vieja, dass sie ihren eigenen Weg gehen musste. So kam es, dass sie mehreren Jahren hier im Wald mitten in den Bergen ankam.
„Mein Traum von letzter Nacht führte mich in ein buntes Tal, wo ganz viele Vögel leben.“ Vieja holte Daniel zurück ins Hier und Jetzt auf dem Ast, auf dem sie gemeinsam saßen.
„In diesem Tal wachsen Blumen in allen Farben und der Fluss führt zu einem Wasserfall mit einem See, wo ganz viele Vögel sich jeden Tag an der Schönheit des Tals erfreuen“.
Vieja hatte die Augen geschlossen, während sie sprach. Es gefiel ihr sichtlich, nochmals in das Tal ihrer Träume zu reisen.
Plötzlich öffnete sie die Augen.
„Daniel, der Traum von letzter Nacht hat mich zu meinen Kindern geführt.“ Sagte sie mit einem glücklichen Tonfall.
„Die beiden leben ihre Bestimmung in Mexiko und sind richtig zufrieden mit ihrem Leben.“
Daniel schaute sie verwundert an. Er wusste, dass vieja davon träumen konnte, wer Heilung benötigt im Wald und dass sie wichtige Informationen für den Winter oder andere Jahreszeiten bekam. Es war aber noch nicht vorgekommen, dass sie über Träume ihrer Kinder sprach.
„Das ist schön, vieja“ sagte er behutsam und lächelte.
Vieja rief begeistert: „Es gibt so viel zu tun, Daniel. Ich glaube, Träume können noch viel mehr als ich gedacht habe.“
Stürmisch flog vieja los in die Dunkelheit. Der Vollmond schien zwischen zwei Bäumen hervor und Daniel beobachtete wie vieja direkt auf ihn zusteuerte. Im Laufe der Jahre hatte Daniel gelernt, auf ihre Intuition zu vertrauen. So folgte er ihr.
Einige Zeit später kamen sie an einem kleinen See mit einem Wasserfall an. E war plötzlich Tag und überall waren Vögel in allen Farben zu sehen. Daniel schien dieser Ort paradiesisch.
„Wo sind wir vieja?“
Seine Freundin lächelte und strahlte ihn an.
„Wir sind im Tal meiner Träume. JedeR von uns kann in diese Welten eintauchen und sie kennen lernen. Wir träumen davon, dort zu sein und können im Wachzustand hinreisen, wenn wir offen sind und unserer Intuition vertrauen.“
Daniel verstand nicht ganz, was vieja damit meinte. Etwas in ihm wusste aber ganz genau, dass sie sehr wahre und weise Worte gesprochen hatte.
„Weißt du, warum ich mich vieja nenne mein lieber Freund?“, fragte sie ihn.
Ohne seine Antwort abzuwarten fuhr sie fort.
„Dieser Name erinnert mich an das alte Wissen. Ja, ich bin alt, aber mit jedem Jahr erinnere ich mehr an vergessene Fähigkeiten aus früheren Zeiten. Unsere Großmütter und Urgroßmütter wussten davon und wir dürfen uns wieder daran erinnern“
Vieja blickte voller Freude in den See und zum Wasserfall. Dann schaute sie Daniel an und es wurde ganz ruhig zwischen den beiden und um sie herum.
„Du warst und bist mir so ein wunderbarer Freund Daniel. Dafür danke ich dir von Herzen.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort.
„Du hast oft geglaubt, dass ich ohne meine Kinder etwas sehr Zentrales und Wichtiges in meinem Leben vermisse und das stimmt. Aber ich durfte erleben, dass ich mich zu meinen Kindern träumen kann. Wir sind verbunden und sie sind so nahe… Tag wie Nacht. Es gibt keine Trennung weißt du Daniel.“
Die Sonne kitzelte Daniel´s Nase und er hatte still und ruhig zugehört.
Vieja war bereits seit vielen Monden hier im Wald. Der heutige Vollmond, der Besuch im bunten Tal ihrer Träume und das Wahrnehmen ihrer Stärke und Verletzlichkeit berührten Daniel ganz stark.
Er folgte seinem Impuls, umarmte seine Freundin und fühlte sich dabei wieder wie ein junger Uhu, der voller Liebe sein Herz weit für eine Frau öffnet.
Vieja schmiegte sich an ihn und lächelte.
„Wir zwei viejas sind die allerbesten Freunde. Ich kann dir alles erzählen und du achtest, respektierst und schätzt mich wie ich dich. Du bist ein Geschenk Daniel und in meinem Leben an meiner Seite von Herzen willkommen.“
Daniel zog seine vieja fest an sich, schloss die Augen und plötzlich träumte er von ihrer gemeinsamen Zeit, dem Besuch ihrer Kinder im Wald, den Abenden am Lagerfeuer mit allen Kindern, Enkeln und Urenkeln und der Freude, die ihm und vieja noch viele Jahre gemeinsam gegönnt war.
Martha Wirtenberger 2020